Stolpersteine 2: Das heterogene Führungsteam

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Stolpersteine 2: Das heterogene Führungsteam

Johannes F. Reichert - Medienzukunft gestalten - Professionelles Changemanagement und Organisationsentwicklung zu Veränderungsprozessen in Medienunternehmen
Wie laufen strategische Veränderungsinitiativen?
Der Vorstand oder ein Führungsteam identifizieren Veränderungsbedarfe, die dann einem Projektteam zur Ausarbeitung und Umsetzung übergeben werden. Im Idealfall ist der Auftrag klar formuliert mit eindeutigen Zielen, Rahmenbedingungen, Ressourcen und Prozessen.

Leider ist das nur selten der Fall:

Im Verlauf des Prozesses entsteht immer neuer Klärungsbedarf,
der dann stetig neu abgestimmt, beauftragt werden muss.

Und erst dann zeigt sich meist, wie unterschiedlich die
Auftraggeber im Führungsteam den Auftrag interpretieren:

  • Wie radikal darf / soll die Veränderung sein?
  • Welche Nebenbedingungen sind unbedingt zu beachten?
  • Was darf nicht angetastet werden?
  • Wo braucht es „Sonderlösungen“?

Verschiedene Rollen der Führungskräfte

Führungskräfte sind eben nicht nur Strategen, die im Sinne der langfristigen Ziele des Unternehmens agieren. Sie agieren in weiteren Rollen, z. B.

  • als Verantwortliche*r ihres jeweiligen Bereichs, dessen Leistungsfähigkeit sie sichern sollen
  • als Gestaltende*r oder Betroffene*r von parallelen Veränderungsprozessen
  • als Vorgesetzte*r von verunsicherten Mitarbeiter*innen
  • als Mitarbeiter*innen mit eigenen Interessen (Status, Karriereplanung, …)

All diese Aspekte fließen in Entscheidungen zum Veränderungsprozess ein, den Führungskräfte als Auftraggeber steuern sollen. Deshalb überrascht es nicht, wenn manche mutige strategische Neuorientierung im Verlauf des Prozesses zu einer halbherzigen, kosmetischen Pseudo-Veränderung degeneriert, die nur wenig zu tun hat mit dem angestrebten Ziel.



Ein Beispiel aus der Praxis

Ein Sender initiiert seine „Digitale Neuorganisation“ mit ehrgeizigen Zielen. Im Verlauf des Prozesses wird sichtbar, dass mögliche wirkungsvolle  Veränderungen im Konflikt stehen mit dem aktuellen Zuschnitt des Organigramms: Bereiche und Abteilungen müssen neu sortiert werden.

Das aber würde die gewohnten und „gefühlten“ Gewichte innerhalb des  Führungsteams deutlich verschieben. Da einzelne Führungskräfte damit nicht  einverstanden sind, wird eine Lösung entwickelt, die im Führungsteam als „fair“  gilt: Jede Führungskraft erhält etwa gleich viele Mitarbeiter und gleich viel Budget wie zuvor.  

Was dabei ignoriert wird: Die so entstehende Struktur ist leider völlig dysfunktional mit Blick auf die täglichen Workflows, verbunden mit  aufwändigen und komplizierten, stellenweise völlig unsinnigen Prozessen im  künftigen Alltag.

Als diese neue Struktur den Mitarbeiter*innen verkündet wird, geht ein zynisch resigniertes Aufatmen durch das Haus: „Es wird sich doch nichts ändern!“



Was tun? Ein kleiner Exkurs

Ein Exkurs in die Theorie der Entwicklungsphasen von Organisationen kann dabei helfen. Unternehmen durchlaufen in ihrer Entwicklung häufg typische Phasen:



  • Pionierphase – die Organisation als begeisterte Gemeinschaft
    Kernaufgabe: Impulsieren einer lebensfähigen Organisation  

  • Differenzierungsphase – die Organisation als überschaubares System
    Kernaufgabe: Transparenz, Übersicht schaffen, die Organisation organisieren

  • Integrationsphase – die Organisation als lebendiger Organismus
    Kernaufgabe: Die Organisation subsidiär und geordnet auf das große Ganze ausgerichtet gestalten

  • Assoziationsphase – die Organisation als verantwortungsvolles Glied im Soziotop
    Kernaufgabe: Vernetzung der Organisation mit ihren Umwelten

Quelle: Julia Andersch, Oliver Martin: Landkarten der Transformation, Car-Auer-Verlag 2023, S. 93

Die Falle der überreifen Differenzierung

Die großen öffentlich-rechtlichen Sender befinden sich m.E. seit langer Zeit in der  Differenzierungsphase:
  • mit dem Versuch einer sachlich-funktional gegliederten Aufbauorganisation
  • mit dem Versuch transparenter professioneller Standardprozesse
  • mit dem Versuch klar definierter Funktionen
  • mit vielen kodifizierten Spielregeln

Ziel dieses Verfahrens ist es (eigentlich), Ordnung, Stabilität, Kontinuität, Rationalität, Professionalität und Sachorientierung zu gewährleisten.

Soweit die Theorie.

Über Jahrzehnte konnte sich das Strukturmodell der öffentlich-rechtlichen Organisationen zunehmend ausdifferenzieren und verfestigen – allerdings selbstreferenziell, frei von  externen Impulsen, wirtschaftlichen Zwängen oder der Notwendigkeit einer Kunden- oder Marktorientierung.

Die Unternehmen entwickelten sich immer mehr zum Selbstzweck -  mit fatalen Wirkungen.

Symptome der Überorganisation

Erkenntnisse der Organisationsentwicklung:
Wo Feedback- oder Korrektur-Signale fehlen, entwickeln Organisationen eine Tendenz,
sich in das Stadium der „überreifen Differenzierung“ zu entwickeln

(aus Julia Andersch, Oliver Martin: Landkarten der Transformation, Car-Auer-Verlag 2023, S. 107)

    • "Silos und Königreiche verstellen immer mehr den Blick auf das große Ganze der  Organisation. Abteilungsegoismus, interne Verrechnungsexzesse und  Abgrenzungsdenken nehmen überhand.

    • Die Macht der Management- und Supportprozesse dominiert zusehends die  Organisation – die Menschen in den Kernprozessen haben den Eindruck, vor allem  mit der Befriedigung der internen Controllingsysteme beschäftigt zu sein. Man hat  den Eindruck, dass ein Papierkrieg herrscht, Verfahren werden wichtiger als Ziele.

    • Die Logik quantitativer Ziele und Zielsysteme führt zum Verlust der Perspektive auf die  qualitativen Ziele der Organisation, auf ihre Mission, ihren Zweck – es entsteht oft der Eindruck von Sinnlosigkeit.

    • Immer häufiger leisten Menschen 'Dienst nach Vorschrift', fühlen sich eingeengt durch Handlungsanweisungen und scharf abgegrenzte Funktionsbeschreibungen - und erkennen immer weniger ihren Beitrag zum großen Ganzen.

    • Kundenbeziehungen werden immer anonymer; Kund:innen fühlen sich oft nicht mehr mit ihren Bedürfnissen wahrgenommen und der Willkür von Geschäftsbedingungen ausgeliefert.  

    • Die rationale Logik des Managements führt zu tendenziell mechanistischem Denken und bewirkt bei immer mehr Mitarbeitenden das Gefühl, als Mensch nur Mittel zum Zweck zu sein, was entsprechenden Einfluss auf die intrinsische Motivation hat.

    • Leitbilder, "mission statements" und Hochglanz-Strategiepapiere (bzw. Hochglanzpapier-Strategien) sind im Überfluss vorhanden, genießen außerhalb des Topmanagements kaum Glaubwürdigkeit und haben eher den Ruf von Bullshit-Bingo.

    • Innovationen, Schnelligkeit und Flexibilität im Markt gehen immer mehr verloren.“

Kommt Ihnen das bekannt vor?
Was hat dieser Exkurs mit den Rollenverhalten von  Führungskräften in Veränderungsprozessen zu tun?

Die Rolle der Führungskräfte in Veränderungsprozessen

Führungskräfte müssen damit beginnen, ihre Aufgabe neu zu definieren.
(Und ich freue mich sehr, zu sehen, wie viele sich bereits auf den Weg gemacht haben.)

Um eine echte Veränderung des Unternehmens zu ermöglichen, braucht es einen Mindset, der weniger darauf ausgerichtet ist, die eigene Position oder den Status des  eigenen Bereichs zu sichern, der die aktuellen Spielregeln hinterfragt, anstatt sie als "normal“ oder "notwendig“ zu akzeptieren.

Die aktuell wichtigste Führungsaufgabe besteht darin,
die begrenzenden Mechanismen der „überreifen Differenzierung“
im Sinne einer gewünschten Zukunft zu transformieren.

z. B.:

  • Wozu ist unser Unternehmen da?
    Was ist unser Zweck, unsere eigentliche Aufgabe, unsere Daseinsberechtigung?

  • Für wen machen wir das alles?
    Was brauchen unsere Kunden wirklich?

  • Wie organisieren wir das möglichst effizient?
    Auf welche unserer aufwändigen Prozesse können wir verzichten?

  • Wie können wir die Kompetenzen und die Motivation unserer Mitarbeitenden  besser nutzen?

J. Andersch + O. Martin teilen meine Erfahrung, dass dies mehr ist als abstraktes  Wunschdenken:

„Wenn es dem Topmanagement gelingt, diese neuen Qualitäten vorzuleben, fällt es aus unserer Erfahrung den Führungskräften im mittleren Management und den Mitarbeitenden leichter, den Prozess mitzugehen und sich den neuen Paradigmen gemäß zu verhalten …"

"Denn die Menschen in der Organisation sind es sehr gewohnt, nach klar gestalteten Regeln, Aufbaustrukturen, Prozessen etc. zu arbeiten; und diese in partizipativen Prozessen zu verschlanken und zu entwickeln, ..., [So] können die Menschen den Weg oft erstaunlich schnell mitgehen und mitgestalten. Die Voraussetzung dafür ist jedenfalls das glaubwürdige Vorangehen des Topmanagements."

"Diese Herausforderungen sind angesichts der Verantwortung, die auf den Schultern des  Topmanagements lastet, durchaus anspruchsvoll.“

Quelle: Julia Andersch, Oliver Martin: Landkarten der Transformation, Car-Auer-Verlag 2023, S. 109

Die Herausforderungen des Topmanagements

Langjährig gewachsene und etablierte Strukturen können nicht von heute auf morgen über Bord geworfen werden. Sie sind zum "tragenden Gerüst" in der Statik des Unternehmens geworden: Würde man sie überhastet durch neue Strukturen ersetzen, hätte dies massive Produktivitätsverluste und Anpassungskrisen zur Folge.
Führungskräfte müssen deshalb sehr genau prüfen: Welche der aktuellen Arbeitsweisen und Strukturen sind "tragend", welche "störend" für die angestrebte Entwicklung.

So basiert sehr häufig der aktuelle Erfolg eines Unternehmens auf 'alten' Produkten ("Cash Cows"), nicht auf den künftigen  "Shooting Stars".
Führungskräfte müssen demnach in ihren Entscheidungen sehr genau abwägen, wie sie  diese zeitlichen Ungleichgewichte und Unsicherheiten im Interesse des Unternehmens balancieren: Wohin fließen die vorhandenen Ressourcen? Auf welche  Produkte und Produktionsweisen werden die Strukturen primär ausgerichtet?  

Zudem sind Führungsteams alles andere als homogen: In Führungsrunden sitzen derzeit vor allem Menschen, deren Verhalten und Erfolg auf den tradierten Prinzipien und Spielregeln basiert und die nicht zufällig Karriere damit gemacht haben. Damit sind Fragen der Unternehmensentwicklung direkt verbunden mit individuellen Karrieren und Bewertungen.

Ein gemeinsames Verständnis entwickeln

Der Weg hin zu einem wirklich belastbaren – und damit erfolgreichen - Veränderungsprojekt funktioniert nur dann, wenn es gelingt, im Kreis der Entscheider*innen ein vertieftes, gemeinsames Verständnis zu den anstehenden Aufgaben und zu dem jeweiligen Veränderungsprojekt zu etablieren.

Das " Why? " darf nicht nur ein Lippenbekenntnis sein,
sondern muss einer ehrlichen, belastbaren Haltung entsprechen.

Dazu reicht es nicht, sich gelegentlich zu treffen, um zehn Tagesordnungspunkte in zwei Stunden sachlich abzuarbeiten. Das bietet nicht den Raum, der für grundsätzliche Auseinandersetzungen nötig ist.

Die Bedeutung von ‚Verbundenheit“

Einer meiner Lehrer (Tilman Peschke) hat mich mit seiner Methode beeindruckt:

„Bevor ich einen Auftrag übernehme, bestehe ich auf einem Treffen mit dem Vorstand. In dieser Runde frage ich dann, wie hoch sie – auf einer Skala zwischen 1 und 10 – ihre ‚Verbundenheit“ einschätzen, wie gut sie sich jenseits der fachlichen Zusammenarbeit kennen. Wie viel Privates sie miteinander austauschen, ob sie auch über ihre privaten Werte, Ziele, Sorgen, Motivationen sprechen, ihre Freizeit miteinander verbringen. Wenn der Durchschnittswert der Antworten unter 7 liegt, fange ich gar nicht an, mit ihnen zu arbeiten. Das kann nicht erfolgreich sein.“

Klingt radikal? Oder altbacken nach „Seilschaften“?
Mag sein. Aber aus meiner Erfahrung funktionieren Veränderungsinitiativen vor allem dann besonders gut, wenn das Führungsteam genau das lebt:

  • ein gemeinsames Verständnis der eigenen Aufgaben erarbeiten,
  • vertrauensvoll miteinander umgehen und
  • verlässliche Partnerschaften schaffen.

Oder wie es Charles Darwin formuliert hat:

"It is not the strongest of the species that survives,
 nor the most intelligent that survives.
 It is the one that is most adaptable to change,
 that lives within the means available,
 and works co-operatively against common threats."




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