Stolpersteine 1: Das unklare "Warum?"
Veröffentlicht von Johannes F. Reichert in Projektmanagement · 4 November 2024
Tags: Change, Organisationsentwicklung, Crossmedia, Strategie
Tags: Change, Organisationsentwicklung, Crossmedia, Strategie
Veränderungsprojekte brauchen immer eine gute, starke Begründung.
„Wir wollen Überleben!“ ist deshalb weniger stark als
Stolpersteine im Change-Prozess
„Klar, haben wir doch!“, sagt der Strategie Verantwortliche.
„Die Analyse unserer Marktdaten und der zentralen KPIs ist eindeutig:
„Die Analyse unserer Marktdaten und der zentralen KPIs ist eindeutig:
Wir müssen, es ist alternativlos!“
Wenn es doch so einfach wäre!
In Produktionsbetrieben mag das noch funktionieren:
Ich erinnere mich an einen Ferienjob im MAN-Motorenbau: Meine Aufgabe war es, den richtigen Auspuffkrümmer an einen Motorblock zu schrauben – und dabei nicht die Dichtung
zu vergessen. Veränderung bestand bestenfalls darin, das auch für eine neue Modellreihe zu tun.
Easy!
In einer leichten Abwandlung der Idee des "Golden Circle" von Simon Sinek musste ich als Mitarbeiter am Band nichts wissen über die Positionierung des Unternehmens („Why?“) oder über Umsetzungsstrategien („How?“). Mir genügte es, zu wissen, was ich zu tun hatte, mit welchen Auspuffkrümmern die neuen Motoren bestückt werden sollten („What?“).
Doch die Welt ist nicht immer so übersichtlich - oft soll die Veränderung in komplexen Systemen stattfinden: Die Arbeitsweisen und Routinen Dutzender, Hunderter oder sogar Tausender von Mitarbeitenden sind von der Veränderung betroffen.
Und gerade in Dienstleistungsberufen führen viele Mitarbeitende im Rahmen ihrer Arbeit nicht nur definierte Tätigkeiten aus: Sie schrauben nicht Einzelteile zusammen, sondern Sie interpretieren und priorisieren Aufgaben, sie kommunizieren untereinander unterschiedlich, sie haben unterschiedliche Vorstellungen zu dem, was "normal“ ist, sie suchen nach situativen ad hoc-Lösungen, sie nutzen persönliche Beziehungen als Abkürzungen langwieriger Prozesse, sie sind unterschiedlich motiviert, sie haben individuelle Erwartungen zu ihrem Status, sie bringen unterschiedliche Vorverständnisse zur Arbeit ein, usw.
Nicht die Chefs - das System entscheidet!
Und deshalb sind es letztlich nicht die Führungskräfte, sondern die Mitarbeitenden, die als System über den Erfolg oder Misserfolg einer Veränderungsinitiative entscheiden. Nur wenn alle im Sinne des „Neuen“ gut zusammenarbeiten, wird die Veränderung gelingen.
Natürlich versucht jeder Change-Architekt, den Veränderungsaufwand für die Betroffenen klar zu benennen und zu reduzieren: Neue Arbeitsplatzbeschreibungen werden formuliert, die Unterschiede zum bisherigen benannt, Qualifizierungskonzepte entwickelt.
Doch spätestens bei der Umsetzung wird klar, dass das oft nicht ausreicht:
Arbeitsbeziehungen sind meist so vielschichtig, komplex und interdependent,
dass sie nicht über einfache To Do-Listen abgebildet werden können.
Ich vermute, jede Führungskraft hat bereits die Erfahrung gemacht, dass eine (zunächst!) harmlos wirkende Veränderungsinitiative krachend gescheitert ist, weil die sozialen Prozesse unterschätzt wurden.
Klar: Weil jede Veränderung zusätzliche Energie kostet, neigen wir Menschen dazu, bestehende Arbeitsweisen und Routinen zu bevorzugen:
„Never change a running system!“
Gewohnte Abläufe und Rituale geben Sicherheit und Orientierung. Vor allem aber entlasten sie uns davon, stets alles neu zu durchdenken, Entscheidungen zu treffen, jeweils die optimale spezifische Lösung zu suchen.
Es braucht also eine gute, starke gute Begründung dafür, vom gewohnten Weg abzuweichen und bewusst und motiviert Neues auszuprobieren.
Damit das Zusammenspiel im Sinne des „Neuen“ funktioniert, müssen Mitarbeiter*innen nicht nur verstehen, wie sich ihre Tätigkeiten ändern, sondern auch, was im Zusammenspiel mit Kolleg*innen und anderen Bereichen ihre Verantwortung und ihr Beitrag ist.
Und damit landen wir wieder bei Simon Sineks „Golden Circle“:
Nur wenn ich als Mitarbeiter*in verstehe, warum und wie sich die strategische Positionierung ändert, bin ich in der Lage, zu reflektieren, welche Verantwortung ich habe, wie ich mich in meinem komplexen Alltag im Sinne dieser Strategie angemessen verhalten sollte.
Ein Beispiel aus meiner Erfahrungswelt:
Ein TV- und Radio-Sender will auf Verschiebungen in der Mediennutzung reagieren, indem er seine digitalen Angebote für jüngeres Publikum stärken will, um langfristig sein Überleben zu sichern. („ Why?“).
Dazu entwickelt ein Projektteam aus Führungskräften neue, medienübergreifende Arbeitsweisen, in denen die digitalen Produkte höher priorisiert werden („How?“).
Und das Leitungsteam erläutert den Mitarbeiter*innen sehr detailliert die neuen - völlig unterschiedlichen - Ressourcen, Arbeitsweisen, Workflows, Entscheidungsbefugnisse („What?“).
Bei der Vorstellung dieses neuen Systems wird massive Kritik laut, die sich vor allem auf die Umsetzung richtet: neue Abstimmungsprozesse, Einschnitte bei einzelnen Budgets, bei gewohnten Entscheidungshoheiten, usw.:
„Wie sollen wir unter diesen Bedingungen unsere Angebote in den gewohnten Mengen und Qualitäten schaffen?!“
Ohne starken Bezug zu "Why?" und "How?", ohne vertieftes Verständnis zu den Rahmenbedingungen haben die Mitarbeiter*innen keine Chance zu einer
anderen Bewertung als über das "What?".
Ein Sender ist keine Motorenfabrik, sondern ein komplexes soziales Gebilde. Und deshalb ist jede Veränderung ein Eingriff - am Beispiel einer "crossmedialen Neuorganisation":
- Die soziale Ordnung („Leitmedium TV, dann Radio, und dann lange nichts!“) wird durcheinander gewürfelt.
- Langjährig etablierte TV-Redakteur*innen leiden unter dem Status-Verlust, den die Veränderung mit sich bringt.
- Redakteur*innen leiden und kämpfen, weil sie ihren journalistischen Qualitätsanspruch bedroht sehen.
- Freie Radio- und TV-Reporter*innen sehen sich in ihrer Existenzgrundlage gefährdet.
- Die Honorar-Richtlinien passen nicht mehr, sorgen für Ungerechtigkeiten.
- …
Muss das sein? Sind diese Konflikte unausweichlich?
Zum Teil sicher – jede Veränderung bringt temporäre Unsicherheiten mit sich.
Aber sie können nach meiner Erfahrung deutlich reduziert werden – mit Hilfe des „Why?":
Mitarbeitende reagieren nach meiner Erfahrung zunächst (!!!) vor allem auf ein sich
veränderndes „What?“, sie reagieren aber weniger reflexartig defensiv, sondern deutlich
konstruktiver, wenn sie in den gesamten Prozess einbezogen werden - oder er ihnen
zumindest verständlich gemacht wird.
Das Zauberwort heißt „Verantwortungsübernahme“.
Mitarbeiter erfahren sich so nicht nur als passive "Opfer" isolierter Entscheidungen, sondern verstehen Zusammenhänge und Alternativen. Damit steigt die Bereitschaft, auch manche unangenehme Veränderung zu akzeptieren - bzw. sie mitzugestalten.
In meinem Crossmedia-Beispiel geschieht dies z.B. durch
Why?
Vermittlung der strategischen Rahmenbedingungen:
- Offene und nachvollziehbare Analyse (Daten zur Verschiebung der Mediennutzung)
- Beschreibung eines „weiter so“-Szenario / „worst case“-Szenarios
- Beschreibung eines realitätsnahen „best case“-Szenarios
- Beschreibung der strategischen Folgerungen / Entscheidungen der Geschäftsleitung
- Beschreibung eines attraktiven Zielbildes („Wir in 3 Jahren …“)
- …
How?
Entwicklung mit starker Beteiligung der Mitarbeitenden:
- bei der Entwicklung neuer Workflows und Positionen im Rahmen der neuen Strategie
- Nutzung der operativen Kompetenzen der Mitarbeitenden zum Identifizieren von Synergie-Effekten in den neuen Workflows
- Vereinbarung neuer Spielregeln für das künftige Miteinander (Tools, Netiquette, …)
- Identifizieren von Qualifizierungsbedarfen
- Bereichsübergreifendes Kennenlernen und Teaming
- Vereinbarungen zur regelmäßige Überprüfung und Nachsteuerung im Prozess (Reviews, Retrospektiven)
- …
What?
Umsetzung für die Mitarbeitenden:
- Orientierung: Kennenlernen der Arbeitsweisen und Bedarfe der anderen Plattformen
- Sicherheit: Qualifizierungsangebote für Mitarbeiter*innen
- Orientierung: Vereinbarungen zur Anpassung von Mengen und Qualitätsanforderungen
- Fairness: Anpassung der Honorarsysteme
- Sicherheit: Mehr Planungssicherheit für Freie Mitarbeiter*innen
- …
Ist dieser Rahmen gegeben, bietet das „Why?“ in der Entwicklung und Umsetzung einen starken Orientierungs- und Begründungsrahmen.
Die oben zitierte „What?“-Frage eines Redakteurs
„Wie sollen wir unter diesen Bedingungen unsere Angebote in den gewohnten Mengen und Qualitäten schaffen?!“
transformiert sich über das „Why?“ dann idealerweise zu
„Um unserem Selbstverständnis von Qualitätsjournalismus gerecht zu werden, müssen wir künftig stärker auf digitale Zielgruppen und Plattformen sichtbar werden. Um das zu schaffen, arbeiten wir künftig stärker integriert und reduzieren unsere Aufwände im Linearen, ohne an journalistischer Qualität zu verlieren.“
Was bedeutet das für einen Veränderungsprozess?
Jeder Veränderungsprozess braucht eine starke Begründung,
ein starkes „Warum?“ und "Wohin?",
das nicht oft genug kommuniziert werden kann,
das als verbindliche Leitlinie durch den manchmal sehr anstrengenden Prozess führt.
Konkreter:
Sinn geben
Dieses Motiv sollte aufgeladen sein, darf sich also sich nicht allein in KPIs erschöpfen, sondern muss im Zusammenhang stehen mit „Werten“ des Systems – einem attraktiven "Purpose", den auch die Mitarbeitenden teilen können.
„Mehr Reichweite im Digitalen!“ ist deshalb weniger stark als
„Wir wollen für die ganze Gesellschaft - also auch für digitale Kunden - der Ort für vertrauenswürdigen, hochwertigen Journalismus sein.“
Positives Ziel
Das Motiv sollte ein attraktives Zielbild in der Vorstellung aktivieren.
„Wir wollen Überleben!“ ist deshalb weniger stark als
„Unser Qualitätsjournalismus auch für jüngere Zielgruppen!“
Eindeutig
Es darf nicht zu viele Interpretationsmöglichkeiten in der Weiterentwicklung bzw. Umsetzung bieten.
„Wir wollen digitaler werden.“ ist deshalb weniger stark als
„Wir werden bis 2028 zu einem primär digital ausgerichteten Medienhaus. Wir verdoppeln unsere digitale Reichweite und passen unsere Strukturen entsprechend an.“
Noch etwas:
- Aus einem starken "Why" entsteht meist auch eine überzeugende "Story", die Ihnen hilft, Ihr Anliegen kraftvoll zu vermitteln.
- Im Alltag hilft das „Why?“ auch bei der Bewertung von Konflikten und Entscheidungsfragen: Wann immer zwei vermeintlich gleichberechtigte, aber konkurrierende Alternativen zur Wahl stehen, bietet das „Why?“ einen Orientierungsrahmen: „Welche der beiden Optionen entspricht eher unseren langfristigen Zielen?“
In diesem Sinn:
Klären und erarbeiten Sie sich bitte ein starkes „Why?“ für Ihren Prozess, bevor Sie in die Umsetzung gehen!
Sie schaffen damit den notwendigen Fokus und eine (hoffentlich) attraktive „Story“ für den langen Weg.
Sie schaffen damit den notwendigen Fokus und eine (hoffentlich) attraktive „Story“ für den langen Weg.
Stolpersteine im Change-Prozess