Eine neue Story muss her!

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Eine neue Story muss her!

Johannes F. Reichert - Medienzukunft gestalten - Professionelles Changemanagement und Organisationsentwicklung zu Veränderungsprozessen in Medienunternehmen
Veröffentlicht von Johannes F. Reichert in Strategie · 15 April 2019
Tags: ChangeStrategieOrganisationsentwicklungKulturwandelTVZDFOnlineCrossmedia
Welche Geschichte erzählen wir, wenn es um den digitalen Wandel in Medienunternehmen geht?
Ich habe die Grundmuster des Storytelling aktueller Veränderungsprozesse bereits in einem Artikel beschrieben:

Oft genug wird eben keine Geschichte erzählt, sondern die Veränderung wird ganz banal top down verordnet.  Die resultierenden Reaktionen sind vorhersehbar: Dienst nach Vorschrift, ohne echte Motivation. Und irgendwann ist die Luft raus, das so engagiert gestartete Projekt versandet wie so viele andere zuvor.
 
Wird eine Geschichte zum Prozess erzählt, dann ist es oft genug das Bedrohungsszenario: „Wenn wir uns nicht massiv ändern, werden wir verschwinden!“ Ich mache das selbst immer wieder gerne. Ein Artikel zur Psychologie unseres Umgangs mit dem Klimawandel macht mich nun nachdenklich.

Der psycho-logische Schutzreflex

Aus der psychologischen Forschung weiß man inzwischen, dass solche Bedrohungsszenarien kaum Wirkung entfalten: „Je existenzieller die Bedrohung, desto geringer ist die Bereitschaft, das Verhalten zu ändern.

Wir ignorieren - aus einem Schutzimpuls heraus und aus Angst -, dass uns eine unaushaltbare Situation erwarten könnte. Wir können nur auf das reagieren, was wir gut kennen oder gelernt haben, und was uns unmittelbar betrifft und vor allem sinnlich erfahrbar ist. Alles andere wird zunächst verdrängt.“  
Das Problem ist demnach, dass ein Umdenken und Lernprozess nur dann funktioniert, wenn es kurzfristig eine Rückmeldung gibt, wenn der Betroffene sofort merkt, dass etwas passiert.
 
Mit Blick auf die Perspektiven der etablierten Medien ist das fatal: Zwar sind auch jetzt bereits die Auswirkungen in Form von Reichweitenverlusten zu sehen, aber nur, wenn man sich intensiv mit Medienforschung befasst. Die schwerwiegenden Auswirkungen des Medienwandels auf die jetzigen Platzhirsche sind noch 5 oder 10 Jahre weit entfernt.

Zudem treffen diese Veränderungsimpulse oft noch auf eine starkes und komfortables Gegenwartsbild: TV-Redakteur*innen z.B. im ZDF sind nicht nur Gestalter des ‚Leitmediums‘ Fernsehen in Deutschland, sie sind dort auch noch Marktführer: Kein Medienangebot erreicht so viele Menschen! Ein solches Selbstbild in Frage zu stellen, muss psycho-logisch auf starke Widerstände treffen.
 
Was also tun, um traditionelle Medienmacher für die digitalen Perspektiven zu motivieren?
 
Nach Ansicht der Forscher braucht es zwei Dinge:
 
  • ein attraktives Zukunftsbild und
  • eine attraktive Gruppe, der man sich zugehörig fühlen kann.

Etablierte Medien – vor allem die Öffentlich-Rechtlichen - haben bislang kein Bild einer Zukunft entwickelt, in der sie sich attraktiv verortet sehen:
 
Entweder sie begnügen sich in ihrer Vorstellung mit einer Fortschreibung des Status Quo, in der ihre Angebote in linearem Fernsehen und Radio weiterhin dominieren. Diese Haltung ist in den Führungskreisen immer weniger anzutreffen – zu offensichtlich sind die Hinweise aus der Medienforschung. Für viele Mitarbeiter*innen aber gilt sie nach wie vor: Was so lange galt, wird auch künftig gelten. Oder, in der zynischen Variante: “Wie lange hab ich noch zur Rente? Das schaff ich noch, ohne mich verändern zu müssen!“

Wie könnte ein solches Bild nach dem Ende der linearen Dominanz aussehen, in einer Medienwelt, die aus einer Vielzahl segmentierter Plattformen und Angebote besteht – verbunden über intransparente Algorithmen?
 
Vielleicht so:
 
Die attraktive Zukunft
 
  • Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist nach wie vor höchst relevant. Er setzt wichtige Themen, fördert die Diskussion zu relevanten gesellschaftlichen Themen, schafft Orientierung in der Unübersichtlichkeit der Medienangebote. Deshalb findet er breite Akzeptanz in allen Bevölkerungsgruppen.
 
  • Aber: Er hat sich massiv verändert. Zwar gibt es noch einige lineare Programmangebote, die Mehrzahl der Programmangebote aber folgt der Nachfrage und ist demnach primär ausgerichtet auf nicht-lineare Nutzung auf Social Media, Apps, smarten Geräten. Entsprechend wurden die Arbeitsweisen und Strukturen in den ‚Sendern‘ nachgesteuert.
 
  • Die Produktion öffentlich-rechtlicher Medienangebote ist nicht mehr ausgerichtet an den Bedingungen einzelner linearer Programme, Sendungen und Formate, sondern an Plattformen:
    Welche Zielgruppen sind über welche Plattformen erreichbar? (Und ja: Auch ein lineares TV- oder Radio-Programm ist eine solche Plattform!) „Programmbegleitung“ ist überflüssig.
 
  • Die Inhalte orientieren sich nicht an Formatbedürfnissen einzelner linearer Produkte, sondern an Kundenbedürfnissen: Welche Themen sind gerade wichtig? Was wünschen sich die Kunden? Was brauchen sie? Auf welcher Plattform und in welcher Formatierung funktioniert das Thema am besten? Wie moderieren wir den Diskurs?

  • Auftrag und Selbstverständnis der ‚Sender‘ rücken in den Mittelpunkt: Im Mittelpunkt stehen nicht mehr Strukturen, Markendiskussion und bürokratische Regelungen, sondern die inhaltliche Auseinandersetzung: Für welche Werte stehen wir?  Welche Orientierung wollen wir vermitteln? Wie unterstützen wir unsere Kunden in ihren Lebensfragen? Wie fördern wir das Miteinander?

  • Die Arbeitsweisen in den Sendern sind getragen von der gemeinsamen Mission. Gemeinsam werden bestmögliche Angebote entwickelt, neue Formatideen ausgetauscht, Kompetenzen und Wissen geteilt. Redaktionsgrenzen sind nur Hilfen zur Strukturierung. Die Arbeitsweisen sind agil, Führung versteht sich als das Moderieren von Prozessen für die bestmöglichen Programmangebote.

Ein schönes Bild, eine Vision. Doch wie kommt man dorthin?

Die Rangfolge stimmt nicht mehr. Aua!
 
Das Selbstbild mancher Redakteur*innen definiert derzeit die Rangordnung und die Kultur innerhalb vieler Sender: Oben ist TV, dann kommt Radio und ganz unten sind „die Onliner“. Lange Zeit hatten die Underdogs diese Rolle akzeptiert, sich um ‚Programmbegleitung‘ gekümmert, keine eigenen Ansprüche formuliert, sich in die eigene Nische zurückgezogen. Das ändert sich gerade.
 
Aus eigener Erfahrung als TV-, dann Online-Redakteur innerhalb eines Senders kenne ich die Spannungen, wie sie in jedem sozialen System bei Veränderungsprozessen entstehen:
Die Rangfolge stimmt nicht mehr. Aua!
 
Wenn (relativ junge) Onliner plötzlich den Anspruch erheben, bei Programmentscheidungen auf Augenhöhe mitzureden oder gar zu entscheiden, stellen sie Systemprinzipien der Organisation mit ihrer ‚natürlichen‘ Rangfolge in Frage: das Medium, die Hierarchiestufe, das Dienstalter. Und stoßen damit zwangsläufig auf Widerstand bei linear arbeitenden Führungskräften und Kolleg*innen, die weder ihre Position noch ihre Deutungshoheit aufgeben möchten.
 
Zudem werden in Veränderungsprozessen meist auch langjährige Teams auseinander gerissen, die von vielen ihrer Mitglieder als „Familie“ gesehen werden: Man kennt sich, weiß um persönliche Dinge, kann vertrauen, die Stärken und Schwächen des Anderen einschätzen, sich aufeinander verlassen. Diese Sicherheit, den sozialen Schutzschild im Alltag zu verlieren, ist eine bedrohliche Herausforderung: „Je existenzieller die Bedrohung, desto geringer ist die Bereitschaft, das Verhalten zu ändern.“
 
Was also tun, um diesen Ängsten und Reflexen im Veränderungsprozess konstruktiv zu begegnen?
 
Die Zauberformel: Erfahrungen schaffen

Entscheidend für das Überwinden von eingeübten Denk- und Verhaltensmustern sind nach meiner Beobachtung gelebte Erfahrungen.

Natürlich ist kognitiver Wissensaufbau sinnvoll – ich selbst realisiere seit Jahren Workshops, in denen TV-, Print- und Radio-Redakteure lernen, wie sich die Medienlandschaft verändert, wie crossmediale Arbeitsweisen funktionieren, welche Erfahrungen Medienhäuser im In- und Ausland mit ihren Veränderungsprozessen gemacht haben. Aber dieser Wissensaufbau ist nur eine oberflächliche, weil unverbindliche Lernerfahrung – sie ist meist nicht verbunden mit der emotionalen Dimension einer Veränderung.

Spannend und nachhaltig wird es dann, wenn Teams unter realen Bedingungen beginnen, ihre Beziehungen neu zu definieren. Wenn etwa die Geschäftsleitung die Einführung eines Newsrooms oder crossmedialer Arbeitsweisen beschließt und die operativen Mitarbeiter*innen beauftragt, entsprechende Workflows zu entwickeln.
 
  • Zu Beginn solcher Veranstaltungen treffen meist Kolleg*innen aufeinander, die sich kaum kennen, die die Agenda ihres jeweiligen Bereichs als Auftrag mitbringen: Ziel ist, die bestehenden Arbeitsweisen der eigenen Redaktion möglichst unverändert in die Zukunft zu retten. Die häufigste Formulierung: „Ja, aber …“

  • Im Verlauf der Gespräche, Übungen, Experimente und Konzeptarbeit entsteht plötzlich etwas Neues: Ein gemeinsames attraktives Ziel wird entdeckt, die Kolleg*innen aus anderen Bereichen werden als kompetent und sympathisch erlebt, aufregende Ideen werden entwickelt, Lust auf wirklich Neues entsteht. Das Arbeiten mit dem neuen Team, mit dem man gerade engagiert die Zukunft gestaltet, erscheint vielen plötzlich so viel attraktiver als die langjährig eingeübten und beschränkten Routinen im Redaktionsalltag.

  • Die Teilnehmer einer solchen Werkstatt verstehen sich plötzlich nicht mehr als Besitzstandswahrer und Interessenvertreter der Redaktion, sondern als Teil eines attraktiven, leistungsfähigen Teams, das die Interessen des gesamten Hauses und der Kunden im Blick hat – eine mächtige Verantwortungsgemeinschaft, die bereits das vorlebt, was im Unternehmen möglich sein kann.

Diese emotionale Erfahrung eines Power-Teams schafft es, die Spielregeln der bislang üblichen Unternehmenskultur zu transzendieren und das ‚Neue‘ spürbar werden zu lassen. Die Ängste und Vorbehalte relativieren sich – sie werden nun nicht mehr als absolute Grenze thematisiert, sondern als zu leistende Aufgabe.

Insofern:
 
Ein Medienhaus mit traditionell starker stabilisierender Unternehmenskultur zu verändern, ist keine leichte Aufgabe. Aber sie ist machbar, wenn die Geschäftsleitung die richtigen strategischen Impulse setzt.






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